Wir bekämpfen die, die wir brauchen


In den Radionachrichten wird gerade von einer
möglichen zweiten Welle durch die Urlaubsrückkehrer
gesprochen. Draußen regnet es.
Seit Stunden sitze ich an meinem Schreibtisch
in Dortmund, schreibe Mails, telefoniere und
rauche eine nach der anderen. Der Hund, der
sich an das Leben im Lager und den Wäldern
gewöhnt hatte, liegt schlafend an meinen
Füßen. Der Leiter der Hilfsorganisation SOS
Bihać, Zlatan Kovacevic, hat gerade angerufen.
„Wir fahren jetzt los“, sagte er. Dann kribbelt es
bei mir. Das Team fährt jetzt in die Berge um
Flüchtlinge zu versorgen. Ich wäre gern dabei,
mein Sani-Rucksack hat bereits Staub angesetzt.
Geht aber nicht wegen Corona, also tue
ich von hier aus, was zu tun ist. Tatort Schreibtisch.
Immerhin sind wir sind nicht alleine. Mit
Hilfe des Aachener Netzwerks sind wir gut über
den Winter gekommen und ernähren täglich
200 bis 500 Menschen, versorgen sie medizinisch,
verteilen bei Bedarf auch Kleidung und
Schuhe. Mittlerweile sind wir eine von der IOM
anerkannte Hilfsorganisation. Die IOM
(Internationale Organisation für Migration) ist
eine Tochter der UN. Die Anerkennung heißt für
SOS Bihać: Wir können unbehelligt von Polizei
und Grenzpolizei das tun, was sonst niemand
darf: Die Flüchtlingsrouten entlang der EU
Außengrenze abfahren und Menschen helfen.
Das ist ein echter Durchbruch. Keine Probleme
mehr mit der Polizei. Die bosnische Politik
bemüht sich darum, humanitäre Arbeit zu
kriminalisieren. Das geht nun nicht mehr,
zumindest bei uns nicht. Zlatan ist ein
großartiger Diplomat. Er hat unsere Gegner in
Bihać zu Unterstützern gemacht. Selbst das
Gesundheitsministerium schwärmt nun von
SOS Bihać und lobt unsere Arbeit. Noch vor ein
paar Monaten haben sie uns ständig die Polizei
auf den Hals gehetzt. Bei allen Bemühungen
sich an die Regeln zu halten: es kann nicht
kriminell sein, Menschen zu helfen. Die
Menschenrechte sind auch von Bosnien
anerkannt und unterschrieben worden.
Schon wieder klingelt das Telefon. Auf dem
Display steht: „der Kleine“. Ich habe die Nase
voll für heute, nach dem vergangenen Jahr bin
ich manchmal etwas „durch“, aber bei ihm hebe
ich ab. Es ist Ahmad (Name von der Red.
geändert), mein kleiner Freund aus Vučjak,
dem Camp auf der Müllhalde nahe Bihać. Seine
Stimme klingt, als würde er aus dem Urlaub
anrufen. Anders als sonst, sehr fröhlich: „Wie
geht es Dir? Hier scheint die Sonne und ich bin
grade mit Freunden unterwegs. Ich liebe Dich.
Und ich vermisse Dich sehr. Hier ist alles gut
jetzt.“ Er klingt, als sei er schon dort wo er
hinwill, am Ziel, als sei wirklich „alles gut“.
Geographisch ist er angekommen in der EU,
aber die Abschiebung schwebt noch immer wie
ein Damoklesschwert über ihm. Bis zum „alles
ist gut“ wird noch Zeit vergehen, vielleicht viel.
Vielleicht wird nie „alles gut“. Heute hat er
Zuversicht. Die überträgt sich auf mich. Ein
guter Anruf. Ich nehme wieder Schub auf und
arbeite weiter. Wenn man weiß wofür, fällt es
leichter.
Ahmad in der Ambulanz im Camp Vucjak im Sommer 2019. Die
Arbeit als Übersetzer und Hilfssani machte ihm Freude. Trotz
der Umstände haben wir viel gelacht, manchmal geweint.
Ahmad lebt jetzt in einer Flüchtlingsunterkunft
in einer italienischen Großstadt. Vor ziemlich
genau einem Jahr haben wir uns kennen gelernt,
an einem Ort der nach Müll und Fäkalien
roch und der kurz darauf in internationalen Medien
als Dschungel- und Horrorcamp Schlagzeilen
machte. Etwa 1000 Männer und Jungs
lebten dort mit hoher Fluktuation. Tausende
durchlitten dieses fürchterliche Elend mit dem
Namen Vučjak. Der Älteste über 60, der
jüngste 12 Jahre alt. Ahmad war 18, Flüchtling
aus Pakistan, von der Polizei deportiert auf die
Müllhalde. Er sprach mich mit schüchterner
Stimme an, in leisem aber perfektem Englisch,
deutlich besser als meines, und bat mich um
Hilfe. Ich weiß nicht mehr was er brauchte,
vermutlich Schuhe oder eine Behandlung in
unserer Ambulanz. Ein hochintelligenter Junge,
viel zu zart für all das. Ich holte ihn in unser
Team. Er spricht Urdu und Paschtu, konnte also
als Übersetzer helfen.
Ahmad übersetzt, als einer unserer Patienten erzählt, das die
slowenische Grenzpolizei einen Hund auf ihn gehetzt hatte. Die
Slowenen übergaben ihn an der Grenze den Kroaten, die transportierten
den Mann dann an die EU Außengrenze und trieben
ihn durch den Wald zurück nach Bosnien, raus aus der EU.
Einer unserer Mitarbeiter war Nationalspieler
der pakistanischen Fußballnationalmannschaft,
beherrschte sieben Sprachen und war dazu
auch noch ein auffällig schöner Mann. Ein
älterer Mann, Gaz aus Kaschmir, war früher
Geschäftsführer bei KFC. Er hat es nach
Portugal geschafft. Alles Männer, die uns
hervorragend im Ambulanzzelt unterstützten.
Es dauerte nicht lange und Ahmad arbeitete
selbst am Patienten und versorgte
Schmutzinfektionen. Aus Österreich waren Dr.
Karin Tschare-Fehr und der Künstler Arye
Wachsmuth gerade da und wir arbeiteten
gemeinsam in unserer Ambulanz. Wir
schlossen ihn alle in unser Herz. Es sind
Tausende, die mir in den vergangenen Monaten
begegnet sind. Mit ein paar Dutzend ist der
Kontakt geblieben, mit einigen sogar sehr eng.
Wenn aus Flüchtlingen Freunde werden, dann
habe ich aufgehört sie zu fotografieren. Die
Nähe macht das. Das ist mir erst jetzt bei der
Suche nach Fotos von Ahmad aufgefallen. Im
Zelt bei der Arbeit blühte er auf, wir versorgten
ihn in diesen Wochen mit allem Notwendigen.
Er arbeitete und träumte davon Europa zu
erreichen. Schlimm war für mich, ihn im Camp
zurücklassen zu müssen und selbst abends
duschen zu können und ein Bett zu haben. Es
ging nicht anders. Seine Eltern hatten ihr Haus
auf dem Land in Pakistan zu einem Spottpreis
verkauft, um seine Reise finanzieren zu
können. Jetzt leben sie in einer Lehmhütte am
Rande einer Stadt. Sie haben ihn losgeschickt,
damit wenigstens einer aus der Familie eine
Zukunft hat und später Geld schicken kann. In
Pakistan ist offiziell kein Krieg. Ich habe viele
Pakistanis gefragt: „Warum tut ihr Euch diese
Reise an?“ Es gab bei allen nur drei mögliche
Antworten: Entweder flohen sie aus den
Grenzgebieten zu Afghanistan vor den Drohnen
der US-Army, weil ein oder mehrere Familienangehörige
durch sie getötet worden waren.
Oder Flucht vor den Taliban. Die dritte: Kriege
innerhalb von Familien. Meist geht es um
Erbstreitereien, wenn Land hinterlassen wird.
Obendrauf kommt dann noch Korruption einhergehend
mit Chancenlosigkeit. Kurz: Flucht
wegen Angst um Leib und Leben. Für diesen
Text hatte ich noch ein paar Fragen an Ahmad
und habe mit ihm gesprochen. Vor kurzem ist
einer seiner Cousins ermordet worden.
Irgendwann versuchte er das erste Mal „the
game“. Vorher gab es täglich Gespräche
darüber. Ahmad hatte Angst vor dem, was vor
ihm lag: Die kroatische und die slowenische
Grenzpolizei. Was passieren kann, das sah er
ja jeden Tag an den Prellungen, Platz- und
Schnittwunden in unserer Ambulanz. Finanziert,
gewollt und gefördert durch die Wölfe im EUParlament
in Brüssel. Die Wölfe sind zwar in
der Minderheit, aber der Rest sind Lämmer. Sie
lassen die Wölfe gewähren. Einige wenige
Mitglieder des EU-Parlamentes allerdings
kämpfen, so viel sie können. Unter anderem
sind das die MEPs Erik Marquardt (Grüne
BRD), Dietmar Köster (SPD BRD) und Bettina
Vollath (Sozialdemokratin aus Österreich). Alle
drei waren in Bihać und haben sich selbst ein
Bild der Lage gemacht.
Wenn Ahmad ein paar Tage unterwegs war,
ging mein Blick oft in Richtung des Waldweges,
der in die Berge führt. Ich begann mir Sorgen
zu machen. Plötzlich stand er wieder vor mir
und fiel mir förmlich weinend in die Arme.
Wieder nicht geschafft, wieder von der
kroatischen Grenzpolizei ausgeraubt und
geschlagen. Nach weit über 10 Versuchen kam
er einmal lachend zurück. Die Polizisten hatten
eine Gasse gebildet, auf jeder Seite sechs EUGrenzpolizisten
mit Knüppeln. Die Flüchtlinge
wurden illegal zurückgepusht nach Bosnien und
mussten diese Gasse durchlaufen. Ahmad war
der Schnellste. Nur ein Schlag hatte ihn am
Unterschenkel gestreift. Er freute sich, dass sie
nicht seinen Kopf getroffen hatten.
Als Vučjak dann aufgelöst wurde, trafen wir uns
regelmäßig heimlich irgendwo in der Stadt. Er
lebte versteckt in Ruinen und im Wald oder war
unterwegs „on game“. Langsam begann er zu
verwahrlosen. Mein Ahmad stank wie alle
anderen. Nicht mehr nach Vučjak, aber nach
Elend. Duschen ging nirgendwo. Hätte ich ihn
in unser Teamappartment mitgenommen, wäre
wenige Minuten später die Spezialpolizei
gekommen. Das ist in Bosnien eine Straftat.
Alles wäre vorbei gewesen. Das konnte ich
nicht riskieren. In den Wäldern und Ruinen
hätte ich ihn in dieser Zeit gut als Hilfssanitäter
und Übersetzer gebrauchen können. Nicht nur
ich.
In derselben Zeit, in der Ahmad sich innerhalb
von nur 48 Stunden in die Arbeitsabläufe in
unserer Feld-Ambulanz eingearbeitet hatte, war
Gesundheitsminister Jens Spahn im Kosovo,
um dort Fachkräfte aus Pflegeberufen abzuwerben.
Die Ursache für viele Probleme, die
Menschen in anderen Ländern haben, ist genau
das: Kolonialismus. Wir holen uns was wir
brauchen. Wer dann die Alten in den Heimen im
Kosovo versorgt, das kann Spahn ja egal sein.
Hauptsache, wir bekommen Fachkräfte, die uns
fehlen. Dabei stehen viele, die es wollen und
könnten, vor den EU-Außengrenzen und
werden geschlagen, getreten, ausgeraubt,
zurückgepusht ins Nirgendwo. Dutzende
Flüchtlinge haben in unserer Ambulanz im
Laufe der Monate mitgearbeitet.
Voraussetzung: Grundkenntnisse in Englisch
und schnell lernfähig. Bis zum Abschluss des
B2-Sprachkurses in Deutschland würde etwa
ein Jahr vergehen. Die Ausbildung zum
Altenpflegehelfer dauert ein weiteres Jahr, zum
Altenpfleger 3 Jahre. Ahmad ist jetzt 19, die
meisten anderen bis höchstens 30 Jahre alt.
Das, was ihre Ausbildung und ihre Versorgung
zu Beginn kosten würde, würden sie später
selbst wieder erarbeiten und durch Steuern
praktisch zurückzahlen. Die Statistik der
Agentur für Arbeit verzeichnet im Mai 2020
bundesweit 23.500 offene Stellen in der
Altenpflege und 16.200 in der Krankenpflege.
Eine andere Quelle spricht von 171 Tagen, die
es durchschnittlich dauert, bis eine solche
Stelle besetzt ist. Zurzeit gibt es in Deutschland
3,3 Millionen Pflegebedürftige, schreibt das
Bundesgesundheitsministerium. Und es werden
mehr. Die Prognose des Statistischen
Bundesamtes für 2025: 110.000 Pflegefachkräfte,
die uns fehlen werden. Wir brauchen
Ahmad.
Ahmad mit dem Künstler und Flüchtlingshelfer Arye
Wachsmuth aus Österreich in der Ambulanz. In Vucjak ist bleibendes
entstanden.
Arye Wachsmuth hat von Wien aus oft mit
Ahmad gesprochen, seit er im November 2019
in Italien angekommen war. So blieb auch ich
auf dem Laufenden. Wir haben beide eine Rolle
in seinem Leben. Ab und an braucht man einen
Menschen, der zuhört und einem die Hand auf
die Schulter legt und sagt: „Junge, Du machst
das alles schon richtig. Glaub an Dich. Du bist
nicht allein. Du schaffst das“. Er braucht das,
das spürt man. Das ist auch ok so.
Die Verwahrlosung des Flüchtlings ist verschwunden. Ahmad
ist nun in Italien und hofft, bleiben zu dürfen. Ein Job würde ihm
helfen.
Jetzt lebt er von 30 Euro wöchentlich, die er
vom italienischen Staat bekommt. Nach seiner
Ankunft haben wir ihm Geld geschickt für
anständige Kleidung, damit er mit dem abgerissenen
Zeugs „from the game“ nicht so auffällt
in Italien. Arye hat sogar einen Kontakt in
besagter Großstadt, Leute, die Ahmad getroffen
haben und ihm Dinge brachten, um die Arye
gebeten hatte. Bis zum 14. Juni 2019 habe ich
noch nie von einer Freundschaft gehört, die auf
einer Müllhalde begonnen hat. Jetzt kann ich
sie nicht mehr zählen. Viele der freiwilligen
Helfer aus der Ambulanz halten Kontakte,
teilweise sehr intensiv. Ahmad sagte in Vučjak
einmal zu mir: „Mein Vater ist nicht da. Jetzt bist
Du mein Vater. Ich möchte so leben wie Du.
Irgendwo hingehen und gute Dinge für
Menschen tun“. „Nein mein Freund“, habe ich
gesagt. „Erst gehst Du studieren, lernst Deinen
Beruf und baust ein Haus für Deine Familie.
Dann kannst Du sowas tun“. Er hat sich
gekrümmt vor Lachen und hat anderen das als
Witz des Tages präsentiert.
Jetzt, so sagt er, werden selbst aus Italien
Flüchtlinge bis nach Bosnien zurückgeschickt.
Er bekomme Nachrichten von anderen Pakistanis,
die das belegten. Er selbst braucht
dringend einen Job. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit,
dass er seine Papiere bekommt,
die ihm den Aufenthalt für mindestens ein Jahr
sichern. Er ist seit November 2019 in Italien und
bisher offensichtlich geduldet und mit dem
Nötigsten vom Staat versorgt. Ein Freund von
ihm hat einen Job bekommen. Schwarzarbeit
für 800 Euro im Monat, ohne freie Tage bei 10
bis 12 Stunden täglich. Das ist ein Risiko. Ein
Migrant bekomme keinen legalen Job, sagt
Ahmad. Das ist auch in der Türkei und
Griechenland so. Keiner will Flüchtlinge, zum
Ausbeuten sind sie dann aber doch gut genug.
Trotz allem hofft Ahmad weiter. Auch, dass sie
ihn bleiben lassen. Vor ein paar Tagen hat er
mir ein Video geschickt. Darauf sind seine
Eltern, die Geschwister und die Lehmhütte zu
sehen. „Sieh es Dir an“, sagt Ahmad. „Dann
wirst Du verstehen, warum ich nicht zurück
kann, sondern mich hier für meine Familie
bemühen muss“.

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